Eine Adventsgeschichte von Steffen Reith
Hier könnt ihr euch die Geschichte vorlesen lassen:
Und hier könnt ihr die Geschichte nachlesen:
Georg Scherflein ist ein einfacher Mensch. Der 52-Jährige arbeitet als Sozialversicherungsfachangestellter bei einer großen deutschen Krankenkasse.
Er lebt als Single im Bocholter Stadtteil Holtwick. Vor gut 20 Jahren war er mal für zwei Jahre verheiratet, doch dann stellte seine Frau fest, dass der Gatte ihr zu langweilig ist.
Und in der Tat kann man zu dieser Erkenntnis kommen, wenn man sich unseren Hauptdarsteller etwas näher betrachtet.
Karierte Hemden, Wollwesten, Cordhosen, Haare gescheitelt, das Brillengestell für 7,99 Euro.
Dass Georg Scherflein seit seiner Scheidung kein Date mehr hatte, geschweige denn eine Beziehung geführt hat, ist zwar blöd für ihn und außergewöhnlich, verwundert aber eigentlich nicht.
Er verkörpert den Prototyp eines Menschen, den man in der Rhön einen „Buideonkel“ nennen würde. Wer nicht weiß, was ein „Buideonkel“ ist: Der wohnt alleinstehend unter dem Dach, ist ein wenig verschroben und hat nicht sonderlich viele soziale Kontakte. Insofern passt die Beschreibung schon ganz gut zu Georg.
Außer, dass er halt in Bocholt-Holtwick lebt und seine 3-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss zu finden ist.
Jetzt könnte man natürlich zu dem Schluss kommen, dass es einen solchen Mann ohne Eigenschaften gar nicht gibt. Da steckt doch sicher ein dunkles Geheimnis, eine außergewöhnliche Neigung oder vielleicht eine Perversität im guten Georg.
„Jeder hat seinen Fetisch“ hat kürzlich ein Hobby-Philosoph mehrfach in der Öffentlichkeit verlauten lassen.
Es ist mittlerweile zu einem geflügelten Wort in seiner ständig wachsenden Fangemeinde geworden. Doch von Georg Scherflein sind keinerlei Abartigkeiten bekannt.
Fakt ist aber auch: Wenn Georgs Geheimnisse jedem bekannt wären, dann wären es ja gar keine Geheimnisse mehr.
Da gibt es aber dann doch eine Sache, die zwar vollkommen harmlos ist, aber halt niemand weiß.
Georg Scherflein hat ein großes Faible für Weihnachten. Er mag es, wenn die Schoko-Nikoläuse Einzug in die Supermärkte halten. Und er ist natürlich sehr damit einverstanden, dass dieser Termin von Mitte November mittlerweile auf Anfang Oktober vorgezogen wurde.
Und er liebt es, wenn die Weihnachtsmärkte eröffnet werden, die Fenster, Häuser und Gärten in weihnachtlichem Licht erstrahlen und in den Shopping Arkaden Bocholts „Last Christmas“ und „Macht hoch die Tür“ sich abwechseln.
Georg ist ein absoluter Weihnachtsfreak. Genauer gesagt: Ein Vorweihnachtsfreak. Denn die eigentlichen Feiertage verbringt er so wie das gesamte Jahr – weitgehend alleine.
Denn an Heiligabend ist der Job von Georg eigentlich schon wieder vorbei. Welcher Job? Er arbeitet doch bei der Krankenkasse.
Und deshalb lüften wir jetzt das Geheimnis: Georg ist seit 12 Jahren als Weihnachtsmann unterwegs.
Ab der Woche vor dem ersten Advent. Aber inkognito.
Niemand weiß, wer in dem roten Gewand und hinter dem weißen Rauschebart steckt. Das möchte Georg unbedingt vermeiden.
Denn nur im Weihnachtsmann-Gewand kann er aus sich herausgehen. Charmante Konversation betreiben, Sprüche klopfen, Menschen erfreuen. Sobald er wieder sein herkömmliches Outfit mit kariertem Hemd und Cordhose präsentiert, möchte er mit Menschen so wenig wie möglich zu tun haben.
Dann will er wieder sein geregeltes und langweiliges Leben führen. Deshalb das Versteckspiel.
Wenn man ihn als Weihnachtsmann buchen will, kann ihn über WhatsApp erreichen, hierfür hat er sich eigens eine Prepaid-SIM-Karte angeschafft. Anrufe auf die Voicemail gehen auch. Es braucht aber niemand zu glauben, dass Georg tatsächlich zurückruft.
Aber überall, wo der Santa-Schorsch mal als Weihnachtsmann aufgetreten ist, da wird er sofort wieder für das kommende Jahr engagiert.
Da braucht man nicht mal ne WhatsApp zu schicken. Dahinter steckt halt die Zuverlässigkeit eines Sozialversicherungsfachangestellten.
Georgs Auftritte als Weihnachtsmann sind außergewöhnlich. Er ist gütig zu den Kindern, hat für die Erwachsenen auch immer ein kleines Witzchen auf Lager und ist ein großartiger Zuhörer, wenn er in Krankenhäuser und Altenheime geht.
Und er singt die schönsten Lieder mit glockenheller Stimme.
Viele fragen sich, wer hinter dieser Fassade steckt. Selbst das Bocholt-Borkener-Volksblatt hatte mal recherchiert, fand aber keine Lösung. Die Journalisten von heute sind halt auch nicht mehr das, was sie mal waren. Dem Santa-Schorsch ist das nur recht.
Georg hat in der Adventszeit fast 100 Termine. Die spult er mit großer Freude, aber auch mit einer gewissen Routine ab. Bis zum vergangenen Dienstag. Da passiert etwas, was das Leben von Georg Scherflein vielleicht verändern wird.
Eigentlich ist an diesem Dienstagabend alles wie immer: Georg hat bereits drei Auftritte hinter sich, ehe er sich zu einem Veranstaltungsort aufmacht, der neu in seiner Liste ist.
Es ist ein öffentliches Gebäude, eine Art Bürgerhaus.
Hier gibt es einen Nebenraum, in dem etwa 30 Leute Platz finden. Georg tritt mit einem lauten „Hohoho“ ein und merkt bereits während seines ersten Gedichtes, dass mit dieser Gesellschaft etwas nicht stimmt.
Es ist zwar nichts Neues, dass er ab und an Leute antrifft, die er kennt. Arbeits- oder Schulkollegen, Leute von früher, mit denen er und seine Ex mal ausgegangen sind. Als er noch ausging.
Aber diese Treffen sind insofern nicht schlimm für Georg, weil ihn ja keiner erkennt. Es ist eher lustig.
Aber heute im Bürgerhaus-Nebenraum ist alles anders: Von den 30 versammelten Leuten kennt er tatsächlich 28.
Außer einer jungen Frau mit einem Block in der Hand und einem Mann mit Kamera sind ihm alle irgendwann mal über den Weg gelaufen. Selbst seine Ex-Frau ist da. Von ihr hat er in den vergangenen Jahren wenig bis nichts mehr gehört.
Georg lässt sich nicht anmerken, dass Puls und Blutdruck auf Rekordhöhe sind. Er beendet seine Verse und will ein Weihnachtslied anstimmen, ehe er unterbrochen wird.
Sein Arbeitskollege Philipp tritt nach vorne. Der sitzt bei der Krankenkasse drei Zimmer weiter und wird der Formulare-Filli genannt, weil er sich heftig gegen die Digitalisierung wehrt.
Jedenfalls bittet Filli ums Wort: „Lieber Weihnachtsmann. Du erfreust seit vielen Jahren die Menschen in Bocholt und niemand weiß, wer du bist. Fast niemand. Denn uns ist es gelungen, dich zu enttarnen, lieber Georg.“
Der Filli wird bei seiner Rede nun unterstützt von Bettina, die mal mit Georg im Kegelclub war, als er noch verheiratet war und ausging.
Sie sagt: „Es wird schon lange in Bocholt gerätselt, wer dieser tolle Mensch ist, der in der Adventszeit soviel Glück und Segen bringt.“
Und da sei es halt irgendwann dazu gekommen, dass sich der Verdacht gegen ihn erhärtete. „Letztlich warst du beziehungsweise der Weihnachtsmann Gespräch in jeder Kneipe, an jedem Stand, an jeder Kaffeetafel“, sagt Harald, der in der A-Jugend mit Georg bei Borussia Bocholt kickte.
Während der Ansprachen knipst der Fotograf fleißig. Und in der Tat: Er und seine Begleiterin arbeiten beim Bocholt-Borkener-Volksblatt und sind total happy, dass sie eine geile Story für die Heiligabend-Ausgabe haben. Den Titel hat die Journalistin schon im Kopf: „Enttarnt – das ist der Mann, der ganz Bocholt in der Weihnachtszeit glücklich macht.“
Und dann kommt als Höhepunkt noch Bocholts Bürgermeister zur Feier: Er überreicht dem Weihnachtsmann Georg Scherflein eine Auszeichung der Stadt.
Georg weiß nicht, was er tun soll: Flüchtet er hastig nach Hause oder er gibt er weiter den leutseligen und empathischen Weihnachtsmann? Er entscheidet sich – Gottseidank – für Lösung zwei. Er hält eine tolle Dankesrede, angereichert mit Anekdoten aus seiner Jugend und von der Arbeit. Selbst für seine Ex hat er viele liebe Worte übrig.
Eines treibt ihn allerdings um: Wie um alles in der Welt hat man ihn erkannt? „Nun“, antwortet Harald, „unter dem Kostüm ragten halt ab und an mal die Cordhose oder ein kariertes Hemd heraus“. „Außerdem“, so sagt Bettina, „trägt in ganz Bocholt niemand ein so billiges Brillengestell.“
Es ist ein guter Abend. Es gibt Schulterklopfen, viel Lob für die selbstlose Hilfe und natürlich Buchungen für das kommende Jahr. Auf Alkohol verzichtet der Weihnachtsmann. Da kommt dann doch der Georg durch.
Santa-Schorsch geht trotzdem beschwingt nach Hause. Im Gepäck hat er die Auszeichnung der Stadt und die Telefonnummer von Bettina. Sie möchte nicht unbedingt ein Date. Aber sie möchte mit ihm einkaufen gehen. Klamotten, versteht sich. Das ist doch schon mal ein Anfang.
Und Georg Scherflein hat ja genug Zeit, sich in seiner 3-Zimmer-Erdgeschoss-Wohnung Gedanken über die neue Situation zu machen. Bis zur nächsten Adventszeit ist es ja noch ein bisschen hin.