Eine Adventsgeschichte von Paula Mainusch
Hier könnt ihr euch die Geschichte vorlesen lassen:
Und hier könnt ihr die Geschichte nachlesen:
Es war ein stürmischer Tag. Der Schnee fiel vom Himmel herab als solle die ganze Welt in weiße Farbe getaucht werden. Die Straßen waren dicht befahren, Autos kamen nur langsam vorwärts. Irgendwie kam es Paula gar nicht so vor als wäre Heiligabend. Normalerweise verbringt sie diesen besonderen Feiertag ganz entspannt – mit Plätzchen, Glühwein, ihrer Familie und Weihnachtsfilmen.
Doch an jenem Tag war es anders. Irgendetwas lag in der Luft. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: „Verdammt“, sagte sie, eingekuschelt in einen Bademantel, „ich habe im Turm noch meinen Laptop vergessen.“ Das wäre an sich keine tragische Sache gewesen, hätte sie nicht die vergangenen zwei Wochen an einer ganz besonderen Weihnachtsüberraschung gearbeitet: Für ihre Eltern hatte sie eine XXL-super-emotionale-Foto-Diashow vorbereitet. Mag für den ein oder anderen kitschig sein – Fotos an Weihnachten anzuschauen war für die Mainuschs aber seit jeher eine festverankerte Tradition.
Paula setzte sich in ihren Smart, fluchte über die glatten Straßen, den dichten Verkehr und kam schließlich in Kerzell an. „Wenn es so dämmert und der Schnee rieselt, sieht es hier irgendwie total gemütlich aus“, murmelte sie vor sich hin, als sie die Treppe zum Büro hinaufstieg. Sie öffnete die Tür und: erschrak. Steffen hätte sie um 16 Uhr an Heiligabend nun wirklich nicht im Büro erwartet.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie verblüfft. „Ach Pauli“, lachte Steffen, „ich habe meine Brille vergessen. Und du weißt ja: ohne Brille kann ich die vielen Geschenke unter dem Weihnachtsbaum gar nicht den richtigen Personen zuordnen.“ Beide amüsierten sich über diesen wirklich komischen Zufall, wünschten sich ein frohes Fest, und waren schon auf dem Weg nach unten, da hörten sie plötzlich ein leises Kichern.
„Hast du das auch gehört?“, fragte Paula. „Ich bin zwar schon älter, aber meine Ohren sind wie die einer Fledermaus“, entgegnete Steffen. Beide schauten sich um, da hörten sie erneut ein leises Kichern – und auch ein Knacken. Die Tür des Gedankenturms öffnete sich, und Ronja betrat den Raum. „Das glaube ich jetzt nicht“, sagte Steffen hörbar irritiert. Und Ronja klärte die Situation schnell auf. „Ich habe meinen Tortenheber im Gedankenturm vergessen und ohne diesen zerfällt meine frischgebackene Zimttor…“
Es knackte wieder. Ronja, Steffen und Paula schauten sich um und fanden die vermeintliche Erklärung für die Geräusche: „Oh man, ich weiß ja, dass Nico manchmal wirklich vergesslich ist“, lachte Paula, „aber die Klappe vom Dachboden offen zu lassen – das sind ja ganz neue Dimensionen. Kein Wunder, dass wir hier so Geräusche hören. Der Wind pfeift, und die Dachlatten knallen gegeneinander.“
Steffen bewegte sich in Richtung Seminarraum, um den Stab zu holen, mit dem man die Klappe schließen konnte, da hörte er wieder dieses leise Kichern. Mit jedem seiner Schritte wurde die Geräuschkulisse lauter…als plötzlich…“Ja, wer bist denn du“, sagte Steffen zu einem kleinen Wesen, das ihn mit großen, runden Augen anschaute.
Es war ganz in grün gekleidet, hatte eine kleine Zipfelmütze auf, einen freundlichen Blick und große, ja überdurchschnittlich große Ohren. „Ist, ist das etwa ein Weihnachtself?“ Steffen traute seinen Augen nicht, stürmte zu seinem Arbeitsplatz, da erblickte er Nico, wie er es sich seinem Bürostuhl bequem machte. Auch er hatte etwas im Büro vergessen, ohne das er Weihnachten nicht feiern konnte: seine Weihnachtsfliege.
Der kleine Elf folgte Steffen und lachte sich über diese komischen Zufälle schlapp. Oder waren es gar keine Zufälle? „Ja, wer bist denn du“, fragte auch Nico verdutzt. Also fing der kleine, kichernde Elf an, zu erzählen: „Ich wohne schon seit vielen Jahren auf dem Dachboden des Gedankenturms, hihihi. Da ist es echt ganz gemütlich. Kann mich nicht beschweren. Aus alten Zeitungen habe ich mir ein kleines Domizil errichtet, und so lebe ich in den Tag hinein, schaue aus dem Fenster, beobachte jeden Tag wie Steffen seine Spazierrunde dreht und genieße mein Leben, hihihi.
An Weihnachten aber, da wird es mir da oben zu langweilig. Da wo ich herkomme, war Weihnachten das größte Fest aller Zeiten. Und da an Heiligabend sowieso niemand von euch im Büro ist, mache ich es mir hier unten gemütlich.“ Steffen, Nico, Ronja und Paula staunten nicht schlecht. Ein Elf im Gedankenturm? Nico hakte nach: „Wie heißt du denn eigentlich?“ Das Kichern des Elfen verstummte. Das Kerlchen wurde ganz traurig und antwortete: „Ich hatte noch nie einen Namen. Da wo ich herkomme, werden wir Elfen nur durchnummeriert. Ich bin Nummer 275.346.“
„Ja, das ist doch gar kein Problem“, sagte Steffen, „wir erfinden einfach einen für dich. Wir werden nicht umsonst Kommunikationsprofis genannt. Wenn du schon im Gedankenturm lebst, dann sollst du auch einen würdevollen Namen bekommen.“ Das gesamte Bensing-und-Reith-Team steckte die Köpfe zusammen. Aber irgendetwas war diesmal anders. Es wollte ihnen nichts einfallen. Es war wie verhext. Ronja schaute schon nervös auf die Uhr. Sie hatte eigentlich versprochen, so schnell es geht, wieder zuhause zu sein. Doch es kam ihr wie die wichtigste Aufgabe ihres Lebens vor, dem kleinen Elfen einen Namen zu schenken.
So ging es auch Nico, Steffen und Paula, die bereits auf dem Weg zur Abstellkammer waren, um den verstaubten Glühwein zu holen. Könnte ja ein längerer Abend werden.
Es verging eine Stunde nach der anderen. Man mag es kaum glauben, aber längst hatten Steffen, Nico, Ronja und Paula ihre eigentliche Aufgabe vergessen. Sie kicherten mit dem Elfen um die Wette, Paula zeigte ihre vorbereitete Diashow, Nico präsentierte seine schicke Fliege und Steffen las mit seiner Brille alte Weihnachtsgeschichten aus Büchern vor, die auf dem Dachboden standen. Glücklich blickte der Elf in die Runde: „Das ist das schönste Weihnachten, das ich je hatte.“ Da bemerkten Steffen, Nico, Ronja und Paula, dass sie das Gleiche fühlten.
Ob der Elf ihre Sachen mit Absicht aus den Taschen geklaut hatte, um das schönste Weihnachten seines Lebens zu feiern, das ist wohl eine andere Geschichte…Fest steht, dass der Elf bis zum heutigen Tage namenlos ist. Noch oft denken Nico, Ronja, Paula und Steffen an diesen besonderen Heiligabend zurück, wenn sie es oben auf dem Dachboden wieder knacken und kichern hören.